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Das Abendliedersingen auf dem Kreuzberg stellte sich als eine wildromantische Stunde heraus. Auf Bänken im Kreis um einen wunderbar gerade und symetrisch gewachsenen Baum herum, wahrscheinlich war es eine Linde, saßen sicher vierzig Leute, mit Blick über Scheidegg hinweg, den Bodensee am Horizont ahnend, hin in die österreichischen, schweizer und lichtensteiner Berge. Angeleitet von eben jenem Pilger-Herbergs-Vater, der mich kurz zuvor mit Informationen eingedeckt hatte und mit der Gitarre die Lieder begleitete, ging zu unserem Gesang an einem immer roter glühenden Himmel langsam die Sonne unter.
Aus etwas Distanz betrachtet sah die Szenerie wahrscheinlich überaus kitschig aus. Aber diese einmalige Kombination der Musik und Texte mit diesem hoch gelegenen Ort, dem schönen noch unangestrengten Wegstück hinter mir, der Vorfreude auf die nächsten Tage sowie dem weiten Blick in die schöne Landschaft  im schwindende Abendlicht, verursachte mir ein Gänsehautgefühl.
Nach einer Stunde war Schluß mit der Romantik. Es wurde auch empfindlich kühl. Obwohl es noch ausreichend hell war und die verstreut stehenden Bänke einluden, sich in der Dämmerung noch etwas der unbeschreibliche Ruhe und dem weiten Blick in die Gegend hinzugeben, zog ich mir die Kapuze über die Ohren und strebte fröstelnd eilig der Herberge zu.
Dort war es warm und angenehm. Weitere Pilger waren zwischenzeitlich eingetroffen. Wir tauschten ein paar Eindrücke und Informationen und verzogen uns dann alle recht schnell zum Schlafen.

Der zweite Tage brachte mir den Pfänderhöhenweg und den steilen Abstieg nach Bregenz. Auch hier folgte ich brav dem Wegweiser mit der Muschel mit dem Ergebnis, dass ich wieder etliche Extrameter gehen musste, anstatt auf dem direkten Weg von der Bergstation der Pfänderbahn nach Bregenz absteigen zu können.
Ob es wirklich sinnvoll ist, sich so rasch wie ich das üblicherweise tue, an Rat und Vorgaben anderer zu orientieren, egal ob es sich dabei um Menschen oder Muschelwegweiser handelt, darüber grübelte ich jetzt in puncto Extrameter bereits zum zweiten Mal. Und später in Rapperswil würde ich, wie bereits beschrieben, noch aus anderem Grund erneut darauf zurückkommen.
Vermutlich war auch das einfach wieder so ein Bewusstseins- und Entscheidungsding. Wenn ich mir bewusst bin, dass ich die Entscheidung über den Weg an den Muschelwegweiser abgebe, dann brauche ich mich hinterher nicht beschweren, dass ich selbst einen kürzeren Weg gefunden hätte. Da hätte ich die Entscheidung dann halt vorher nicht an Schilder und Pfosten abgeben dürfen.
Mit den Ratschlägen anderer Menschen scheint es mir ähnlich zu sein.
Jeder wird ja zu dem raten, was für ihn selbst gut war. Woher kann ich wissen, ob das was für mich gut war auch für einen anderen gut ist?

Das herrliche Abendrot am Vorabend hatte mir Hoffnung auf einen warmen und sonnigen Tag gemacht. Richtig schön wurde es allerdings erst am Nachmittag und da war ich bereits in Lindau.
So ging ich den schönen Höhenweg bei ziemlich verhangenem Himmel und mit nur undeutlichen Aussichten auf den Bodensee.

An der Ulrichskapelle sah ich den vom Herbergsvater in Scheidegg angepriesenen Brunnen mit dem Wasser, dem Heilkraft für die Augen nachgesagt wird.
Und diesmal klopfte ich mir innerlich fest auf die Schulter, dass ich trotz seiner wiederholten Einwände, ich solle mir den Rucksack nicht für das erste Wegstück mit so viel überflüssigem Wasser beschweren und seines am Ende resignierten Kopfschüttelns, standhaft geblieben war und auf das komplette Füllen meiner anderhalb Liter Wasserflasche bestanden hatte.
Bei dem bisschen Wasser, was da aus dem Hahn rann, hätte es hier, mitten im Wald, eine gefühlte Ewigkeit gebraucht, bis meine Flasche voll gewesen wäre. Zugegeben, ich verzichtete damit darauf, in den nächsten Stunden Quellwasser für „gute“ Augen zu trinken. Aber ich bin ja noch leidlich jung. Da sollte ein kleiner Schluck reichen, die beginnende Weitsichtigkeit zumindest vorübergehend abzumildern.

Zu meinem Stock, ohne den zu gehen ich mich inzwischen überhaupt nicht mehr trauen würde, gibt es an dieser Stelle noch zwei nette Anekdoten.
Wie bereits geschildert, handelt es sich bei diesem Wanderstock um einen ganz einfachen „Neun-Euro-Edeka-Zufallsfund“, einen sehr schlichten und unprätentiösen, um nicht zu sagen einen recht rohen, Holzstock. Allerdings sollte ich der Ehre halber erwähnen, dass er wirklich schön gerade ist.

Als ich auf der Pfänderalpe Mittag machte, stand plötzlich der Wirt neben mir am Tisch und fragte mich, ob ich den Stock selbst geschnitzt hätte. Das wäre ja ein Prachtstück!?! Ja er würde selber Wanderstöcke schnitzen und diese dann mit den inzwischen wieder aufkommenden Wanderstockplaketten schmücken.
Er beglückwünschte mich herzlich zu dem schönen Stück und wünschte mir beim Weggehen nochmals extra alles Gute.
In Bregenz am Hafen hielt dann unvermittelt ein Fahrradfahrer neben mir und bat mich, ihm zu sagen, woher die Metallspitze an meinem Stock stamme. Ich muss ihn wohl einigermaßen verwirrt angeschaut haben und erklärte dann auch ihm, dass ich den Stock keineswegs selbst angefertigt sondern so wie er war gekauft hätte.
Ich empfahl ihm eine Recherche bei ebay, wo man bislang ja immer noch für alle notwendigen und überflüssigen Dinge fündig werden kann. Ja entgegnete er, das ginge leider nicht, weil er auf der Straße lebe und Wanderstöcke anfertige, um sie dann vielleicht verkaufen zu können.
Auf seinem Gepäckträger transportierte er in der Tat einige schöne Stöcke aus Schwemmholz.
Rückblickend frage ich mich, warum ich mir nicht wenigstens die Zeit genommen habe, um zusammen mit ihm über mein Smartphone einen kurzen Blick ins ebay zu werfen, ob man dort tatsächlich Metallspitzen für Wanderstöcke finden kann. Ja warum eigentlich nicht? Ich dachte wohl, ich hätte keine Zeit. Und irgendwie fürchtete ich mich wohl auch vor einem näherem Kontakt. Warum eigentlich?
Meine Antwort ist, weil mir so was bislang noch nie passiert ist.
Im Grunde ist das aber doch ziemlich blöd, dass mir offensichtlich Dinge erst mehrfach passieren müssen, bevor ich mich traue, mich auf sie einzulassen. Ich hoffe inständig, dass sich das im weiteren Verlauf meines Weges noch ganz grundlegend ändert.

Vom Bahnhof am Bregenzer Hafen sollte dann zwei Minuten später ein Zug Richtung Lindau fahren. Während ich mit dem Fahrkartenautomaten und seinen unzuverlässig funktionierenden Tasten kämpfte, erschien neben mir ein sehr gut gekleideter junger Mann und fragte, ob der Zug nach Lindau gleich käme. Ich verwies auf die Anzeigetafel: in zwei Minuten.
Ob ich gleich zwei Fahrkarten kaufen könne, fragte er weiter, weil ihm die Zeit wohl nicht mehr reichen würde, sich selbst noch eine zu kaufen. Die entstehende bzw. durch ihn verursachte Hektik führte nicht dazu, dass ich schneller mit dem Automaten zurecht kam, weshalb er kurzerhand über mich hinweg langte und die Bedienung übernahm.
Ja was soll ich sagen: es kam ein Ticket für zwei raus, der junge Mann hatte das Geld nicht passend und ich konnte nicht raus geben. Und da kam auch schon der Zug.
Wir regeln das in Lindau am Hauptbahnhof sagte er beim Einsteigen und vergrub sich dann regelrecht in einem Sitz.
War im Grunde ja kein Problem. Allerdings hatte ich in Lindau einige Mühe ihn aufzuwecken, obwohl er mir gar nicht zu schlafen schien. Auf dem Weg zum Zeitschriftenstand erzählte er mir, wie tief er in Gedanken zu einem beruflichen Problem versunken sei und deshalb fast den Bahnhof übersehen hätte.
Er wechselte seinen Schein und bezahlte mir seine Fahrkarte und dann als wir uns verabschiedeten stellte sich heraus, dass er ebenfalls aus Starnberg stammte.

Zufälle gibt es, die gibt es eigentlich gar nicht. Oder der Teufel ist eben doch ein Eichhörnchen.
An keinem Ort dieser Welt kann man wirklich sicher sein, nicht doch einem Bekannten, Nachbarn, Freund oder Feind über den Weg zu laufen. Natürlich ganz rein zufällig. Oder es mischt eben doch von irgendwo irgendwer irgendwie mit.