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Die Jugendherberge bietet inkludiert in ihren recht stolzen Übernachtungspreis immerhin ein reichliches Frühstück. Da dieses außerdem schon ab 6.30 möglich ist, nutze ich das Angebot, da ich es ja eh bezahlt habe und packe mir vom ausliegenden Obst auch noch etwas ein.

Ab der Jugendherberge geht es sehr schön direkt immer am See entlang. Leider aber stinkt es, solange ich mich im Stadtgebiet befinde nach Kloake, Hund und Abfällen und außerdem liegt überall auf den Wiesen reichlich Müll von den Badegästen des Vortags. Da ich auch heute schon wieder um 7.00 Uhr losgegangen bin, sind aber wenigstens zum Glück noch fast keine anderen Leute unterwegs.

Und dann wird es ab St. Sulpice ein ganz unerwartet sehr schöner Weg bis Rolle. Über Préverenges, Morges mit seinem Schloss, St. Prex und Buchillon führt der Weg immer ganz nah am Wasser entlang. Immer wieder wird ein kleines Waldstück durchquert, das bis an Wasser wächst, dann kommt zur Abwechslung wieder ein kleiner Badestrand. St. Sulpice, Morges und auch St. Prex sind kleine Örtchen, in denen sich der Trubel in Grenzen hält.

Morges ist etwas größer und liegt dicht am Wasser, aber es ist immer noch übersichtlich. Dahinter kommen wieder kleinere Örtchen, die auch mal ein Stückchen zurückgesetzt sind vom Wasser und sogar eine Kuhweide, die bis direkt an den See reicht.
Zwischendurch wandere ich dann sogar durch Weinberge und Obstplantagen, dann wieder erneut durch kleine lichte Wäldchen und immer wieder ans Wasser zurück.

Auch heute schaffe ich es nicht, mir rechtzeitig einen Platz und etwas zum Essen zu suchen. Erst will sich einfach keine passende Bank mit der passenden Aussicht vor mir aufstellen und dann fange ich an von einer Riesenportion Pommes und einem Schnitzel zu träumen. Meinen Hunger auf so viel Fett kann ich mir nur mit meinem Kalorienverbrauch der letzten 10 Tage erklären und bin längere Zeit unschlüssig, ob ich weiter nach einem solchem Essen suchen oder einfach endlich Pause mit meinen Obstriegeln machen sollte.
Zu guter Letzt nehme ich ein Lokal, an dem ich in Allaman, kurz vor Perroy, vorbeikomme. Es liegt unglaublich schön am Wasser, hat aber leider auch einen unglaublich versnobten Oberkellner, dem wohl weder mein Aussehen noch mein Rucksack passend für sein Lokal erscheinen. Als ich nach minutenlangem Warten am Eingang auf die Einweisung an einen Tisch immer noch nicht aufgegeben habe, kommt er endlich und führt mich zu einem freien Platz. Mangels besserer Möglichkeit platziere ich meinen Rucksack auf dem Stuhl mir gegenüber, was mir, als mir mein Bier serviert wird, dann ziemlich gut gefällt. So habe ich nicht den Eindruck, allein am Tisch sitzen zu müssen. Allerdings währt dieses Vergnügen nicht lange, denn der Herr Oberkellner ist der Ansicht, dass der Rucksack auf dem Stuhl eine Stolperfalle darstellt und deshalb hinter bzw. unter dem Bartresen abgestellt werden muss. Ohne mich weiter zu fragen, nimmt er mir den Rucksack einfach aus der Hand und lässt ihn im hinteren Teil des Raums verschwinden. Das Essen ist nicht billig und war auch nicht gut, aber immerhin gab es Pommes. Zur Kompensation und auch um mich ein bisschen für die unfreundliche Behandlung zu rächen habe ich das Trinkgeld ganz genau abgezählt. Na ja, bringt das was und falls überhaupt, dann wem? Wird es dem nächsten meiner Art dort deswegen besser ergehen? Vermutlich nicht. Aber ich hatte das Gefühl, das meiner Psychohygiene schuldig gewesen zu sein.

Die unfreundliche Mittagespause hat mich etwas aus dem Flow gebracht, auch wenn ich versucht habe, mir den Spaß nicht von anderen verderben zu lassen und leicht belustigt war über die neugierigen Blicke um mich herum. Alle waren so adrett und fein herausgeputzt, wie die Franzosen eben nach draußen und zum Essen gehen und ich saß mittendrin verschwitzt und ziemlich angestaubt von den vergangenen Stunden. Der arme Kellner. Ein bisschen hat er mir fast leid getan.

Essen und Pausen sind wirklich wichtig. Darauf achte ich viel zu wenig und immer erst, wenn fast oder am Ende dann gar nichts mehr geht. Und im Leben jenseits des Pilgerns gehe ich genauso mit mir um. Ein bisschen was geht, denke ich, doch immer noch. In jeder Beziehung und in jede Richtung.
Und in den Flow komme ich über das Gehen und nicht reden. Wenn ich aus dem Tritt komme und meinen Flow verliere, wie komme ich dann möglichst schnell wieder rein?

In Rolle angekommen finde ich meine Herberge für heute wieder mitten auf der Hauptstraße in einem 300 Jahre alten Haus, das ziemlich gut hergerichtet zu sein scheint. Die Stadt ist klein aber hübsch und hat wieder ein großes Schloss. Auf der Uferpromenade stehen viele Bänkchen einladend hintereinander und in einer Eisdiele direkt unter meinem B&B gibt es ein leckeres italienisches Eis.
Heute war wieder einer der schönsten Tage dieses Weges: Wetter, Weg, Flow. Alles tip top!

Inzwischen fühle ich mich angenehm reduziert allerdings emotional auch reichlich ungeschützt. Ich muss aufpassen, wem und wie ich anderen begegne.
Das Gehen auf Dauer versetzt einen in einen fast meditativen Zustand der Offenheit. Denn anders als offen lässt sich dieser Weg ja gar nicht bewältigen. Und gleichzeitig macht diese Offenheit auch sehr verletzlich. In der Zeit hier beim Pilgern bin ich dem ausgesetzt und ausgeliefert dem, was da kommt und habe nichts, hinter das ich mich schützend zurückziehen könnte. Im Gegenteil, ich bin darauf angewiesen, dass andere Leute mir Schutz gewähren, indem sie mir ihre Häuser öffnen.
Das macht auch so dankbar. Wenn man selbst außer Geld (immerhin) nichts hat.
Und ich denke, dass das mit den offenen und ungeschützten Kontakten hier auf dem Pilgerweg auch nur deshalb funktioniert, weil die Kontakte immer nur ganz kurz sind und ebenfalls auf das wesentliche reduziert. Es gibt weder bestimmte Erwartungen noch Ansprüche aneinander.